30 Jahre Aktion Toleranz 

 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, im Namen der Aktion Toleranz begrüße ich Sie und euch herzlich zu unserer Ausstellung „30 Jahre Aktion Toleranz in Mörfelden-Walldorf“ hier im KUBA.

 

Diese Ausstellung ist unsere Schlussbilanz und wir beenden unser Engagement in der Gruppe – der Zeitpunkt scheint dafür nicht ideal gewählt. Es gibt weiterhin rechtsradikale Tendenzen, eine rechtsextreme Partei ist im

Begriff, weitere Wahlsiege zu erreichen und wird vielleicht Regierungen stellen.

Wenn es ein Engagement für Toleranz, für Demokratie, für Zivilcourage, gegen Rassismus, gegen Faschismus, gegen Krieg, gegen Militarisierung braucht – dann doch wohl jetzt !

Ja, das ist richtig, Engagement, sich zu Wort melden ist nötig!

Das haben wir als AT 30 Jahre lang getan – laut und deutlich – mit Themen, die bis heute aktuell sind.

Dabei waren wir immer unabhängig und frei in unserem Engagement und bei der Wahl unsere Themen und Referentinnen – und auch finanziell.

 

Wie kam es überhaupt dazu?

In den 1980er Jahren kamen vermehrt Asylsuchende in den Kreis Groß-Gerau und damit auch nach Mörfelden-Walldorf. Die Verpflichtung zur Unterbringung stellte die Stadt vor Herausforderungen, denn auch damals schon war Wohnraum knapp. Dies führte zur Gründung der Christlichen Flüchtlingshilfe, die Häuser ankaufte, um Flüchtlinge unterzubringen und zu betreuen. Die Zusammenarbeit der Sozialarbeiterinnen der Stadt und der

Christlichen Flüchtlingshilfe war gut und diese Kooperation hat eine außergewöhnliche Unterstützung und Hilfe möglich gemacht. Viele Ehrenamtliche waren aktiv, haben die Flüchtlinge in ihrem Alltag begleitet und auch beim Erlernen der Sprache, beim Erwerb von Schulabschlüssen und beim Lernen während einer Ausbildung geholfen. Denn eins ist klar: Migration kann nicht einfach mit einem Slogan „Wir schaffen das“ dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden, Migration muss gestaltet, muss unterstützt werden; sowohl die Menschen, die kommen als auch die aufnehmende Gesellschaft braucht ein Angebot zur Bewältigung der ungewohnten und meist nicht einfachen Situation.

 

Das war damals und das ist auch heute in unserer Stadt so. Es gab und gibt viel persönliche Kontakte und Begegnungen – nur so war es damals möglich, dass wir von den Flüchtlingen erfahren konnten, wie es

ihnen auch in Mö-Wa erging– dass sie nicht überall willkommen waren, sondern in ihrem Alltag  Diskriminierungen und Rassismus erlebten. Darüber waren wir so besorgt, dass wir dies in einem von uns gewählten Rahmen öffentlich machten. So luden wir im Sommer 1993 viele Menschen persönlich zu einem Treffen ein, in dem wir davon berichteten.

 

Die Folge daraus war weiteres Engagement von Ehrenamtlichen, eine erhöhte Sensibilität für rassistische Erlebnisse der Flüchtlinge und ein Erkennen für die Notwendigkeit eines politischen Engagements.

Aus 11 Menschen unserer Stadt mit unterschiedlichen Hintergründen bildete sich die Aktion Toleranz.

Dies waren Rosi Becker, Renate und Dieter Burmeister, Käthe und Rudi Hechler, Bodo Kolbe, Nina Weller-Kolbe, Gabriele Schuster, Annette und Hans Seydel; anfangs war auch Achim Sibeth.

Dabei Parallel dazu fand in  Deutschland eine Diskussion zum Grundrecht auf Asyl statt, eine riesige mediale Kampagne gegen Asylsuchende machte Stimmung. Aus Hetze wurden Taten, wir erinnern uns an brennende  Flüchtlingsunterkünfte z.B. in Rostock, den Mordanschlag in Mölln und unzählige weitere rassistische Gewalttaten. Das Grundrecht auf Asyl war eine direkte Folge der nationalsozialistischen Herrschaft, als Millionen Menschen in Deutschland und Europa systematisch erfasst, verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Viele, die hätten flüchten können, scheiterten daran, dass sie keine Papiere, keine Visa von Aufnahmeländern bekamen oder schlicht nicht genug Geld hatten, um professionelle – heute würden wir sagen „Schlepper“ zu bezahlen, die sie sicher aus Deutschland hätten herausbringen können.

1993 wurde das Grundrecht auf Asyl de facto abgeschafft - bis heute ist es kaum noch möglich, einen Status als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu bekommen. Wenn wir die heute die öffentliche Debatte betrachten, wird über Migration zwischen humanitären Erwägungen und der Nützlichkeit zur Anwerbung von

bei uns fehlenden Fachkräften diskutiert. Uns war immer wichtig, den Zusammenhang zwischen der deutschen

Geschichte und aktuellen, auch lokalen Ereignissen deutlich zu machen. 

 

Deshalb war ein elementares Engagement der AT die Gestaltung der Gedenkveranstaltung anlässlich der Reichspogromnacht am 9. November 1938!

Der 9. November 1938 war keine spontane Aktion, sondern der Beginn der systematisch und perfekt organisierten Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Europa.

In den ersten Jahren konnten wir noch viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einladen, die uns ihre sehr persönlichen Schilderungen der Ereignisse zur Verfügung stellten – das war sehr berührend und beeindruckend.

Peter Gingold, Alfred Jachmann, Edith Erbrich, Cecilie Peiser, Herbert Adler

 

Wir nahmen andere Opfergruppen der Verfolgung der Nationalsozialisten in den Blick, Roma und Sinti, homosexuelle Menschen, Menschen mit Behinderung, Kinder, Zwangsarbeiter/innen, politisch Verfolgte wie

Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Musiker.

Wir haben uns mit den Tätergruppen beschäftigt, die juristische Vorbereitung, die Durchsetzung und Umsetzung der menschenverachtenden Gesetze durch die Behörden, die Beteiligung der verschiedenen Berufsgruppen

angesehen, Juristen, Polizei, Pädagogen. Zunehmend fragen wir uns, werden wir dem Gedenken und Mahnen

gerecht, wie ist dies angemessen – wird unsere Absicht erkennbar – wie kann die Einzigartigkeit der damaligen Verbrechen sichtbar werden – und die Mahnung an uns heute - wachsam, aufmerksam und kritisch zu sein.

 

Und auch heute ist wieder eine Parallelität der Ereignisse zu beobachten. 

Es findet eine Politik statt, die auf Ausgrenzung und Abschottung Europas setzt; gerade in dieser Woche hat das europäische Parlament ein viel umjubeltes System der Ausgrenzung von Flüchtlingen beschlossen und damit

eine Eindämmung der sog. „irregulären Migration“. Flüchtlinge sollen an den EU- Außengrenzen in exterritorialen Lagern Schnellverfahren durchlaufen und selbst in sogenannte sichere „Transitländer“ zurückgeschickt werden. Das tausendfache Sterben auf dem Mittelmeer und auf dem Weg nach Europa wird gar nicht mal mehr erwähnt!  Und über die vielbeschworenen europäischen Werte oder über die Ursachen von Flucht hören wir in diesem Zusammenhang gar nichts. Weltweit sind ca. 110 Mio Menschen auf der Flucht – diese leben oft unter

elenden Umständen in ihren eigenen oder in Nachbarländern. 

Zurück zur Parallelität der Ereignisse: Rechtsextreme Gewalttaten finden statt und es kommen Zweifel auf ob der Aufklärung dieser Verbrechen; rechtsextreme Tendenzen im Verfassungsschutz und bei der Polizei scheinen uns fast „normal“. Es beschleicht uns zunehmend ein Unbehagen ob des „richtigen“ Gedenkens und vielleicht kann eine neue jüngere Generation dies in anderer Form mit Inhalt füllen. 

 

Der zweite Komplex unseres Engagements waren zahlreiche Informationsveranstaltungen, Ausstellungen, Filme, Konzerte, Theater. Wir haben uns und Andere informiert über Themen, die nach wir vor aktuell und brisant sind: Militarismus, Aufrüstung, die Rolle der NATO, sicherheits-, sozial- und europapolitische Themen.

Auch hier waren die Begegnungen mit Zeitzeuginnen wie Esther Bejarano, Trude Simonsohn, Irmgard Heydorn, die besonderen Eindruck hinterließen.

 

Weitere Aktivitäten fanden in der Gruppe statt. Wir haben verschiedene Gedenkstätten besucht – Osthofen, Buchenwald, Natzweiler- Struthhof, Hadamar, Breitenau, das Emslandlager– haben uns die Städte Speyer, Worms und Mainz angesehen, wir waren in Nürnberg. Dadurch haben wir nicht nur unser Wissen und unser Netzwerk erweitert – die gemeinsamen Erfahrungen waren auch wichtig für den Zusammenhalt und

die Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe. 

 

Wir haben viel Unterstützung erfahren dürfen. Die Stadt hat uns immer unterstützt bei unseren Veranstaltungen, so auch jetzt bei dieser Ausstellung.

Dank auch dem KUBA, in dem wir ja in den letzten Jahren quasi „Zuhause“ waren. Jede und jeder Einzelne in der Gruppe hatte seine/ ihre Aufgabe, die sie selbstverständlich wahrgenommen hat. 

Danke für diese tolle außergewöhnliche Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen. 

 

Ganz herzlichen Dank auch an Christina Jonczyk- Seeliger für die Gestaltung der Ausstellung.

Mit dieser Ausstellung wollen wir noch einmal die ganze Bandbreite unserer Themen darstellen.

Im letzten Jahr haben wir einfach gemerkt, dass unsere Zeit als AT zu Ende ist – und haben dann gemeinsam die Entscheidung getroffen, die bisherige Arbeit zu beenden, ist damit ja auch eine Verantwortung verbunden.

Die deutsche Geschichte lehrt uns, wachsam und kritisch zu bleiben, die Dinge zu hinterfragen. Deshalb muss daran erinnert werden, was in Deutschland geschehen ist – der Begriff Holocaust darf nicht inflationär

benutzt werden – diese systematische Vernichtung menschlichen Lebens ist leider wahrlich einzigartig in der Geschichte.

 

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes unseres Landes haben dies 1949 bedacht, indem sie Grundrechte für alle Menschen festgelegt - dafür gilt es einzutreten – ob in einer Organisation, Partei, Gruppe einem Verein oder jede und jeder Einzelne in seinem Umfeld. 

 

1997 sagte Alfred Jachmann in seiner Rede zum 9. November:

„Kämpfen wir gemeinsam gegen Unwissenheit, Gleichgültigkeit und

Vorurteile- für Menschlichkeit, Fortschritt und Brüderlichkeit.“

Diese Aufforderung bleibt aktuell und dieses werden auch die Mitglieder der Aktion Toleranz sicher weiter in ihrem weiteren Wirken – wo und wie auch immer – praktizieren.

 

Auszüge: Ausstellungseröffnung am 14. April 2024 - Annette Seydel